Die Stadt Zürich wächst und verdichtet sich: Bis 2040 wird eine Bevölkerungszunahme um 25% erwartet. Mit den sich im Wandel befindenden Quartieren verändert sich auch der soziokulturelle Bedarf. Ein Einblick in die Arbeit der Zürcher Gemeinschaftszentren (GZ) in den Stadtteilen Manegg, Altstetten und Leutschenbach zeigt, wie wichtig, aber auch herausfordernd soziokulturelle Aufgaben in einer wachsenden Stadt sind.
Im Süden von Zürich entsteht auf dem ehemaligen Industrieareal Manegg Wohnraum für rund 4ʼ000 Menschen. Damit entwickelt sich in der Manegg ein neuer Stadtteil, der durch die inselartige Lage zwischen Autobahn und Sihl von den Quartieren Wollishofen und Leimbach abgeschnitten ist.
Entsteht ein neuer Stadtteil wie hier innert kurzer Zeit, ist es für das Zusammenleben wichtig, dass «Zuziehende möglichst schnell die Gelegenheit erhalten, sich zu organisieren, Projekte ins Leben zu rufen und eine gemeinsame Identität zu erschaffen», erklärt Melanie Brändle vom städtischen Büro für Sozialraum & Stadtleben. Kurz nach den allerersten Bewohnenden zog deshalb im Frühjahr 2018 mit dem «Standort Manegg» auch eine Zweigstelle des GZ Leimbach in das junge Viertel.
«Wollen wir so leben?»
Weder das soziokulturelle Programm noch die Räumlichkeiten waren zu diesem Zeitpunkt bereits fertig ausgestaltet – denn die nach und nach wachsende Quartierbevölkerung sollte dabei möglichst viel mitwirken. Und tatsächlich: Als der kleine Raum an zentraler, aber damals noch wenig belebter Lage inmitten der ersten Überbauung («Greencity») aufging, stellten sich schnell die ersten neugierigen Anwohnerinnen und Anwohner vor, erzählt die Standortleiterin Viviane Borsos. Der «Eisbrecher» sei jedoch einem Zeitungsartikel zu verdanken, der die Überbauung unter dem Titel «Wollen wir so leben?» als grau und unattraktiv abwertete. «Die Leute eilten zu mir und waren richtig aufgewühlt», erinnert sich Borsos. Die mediale Kritik weckte viel Tatendrang: Obwohl sie erst seit kurzem hier wohnten, identifizierten sich viele der Bewohnerinnen und Bewohner bereits mit dem Quartier. So kam die Idee auf, die Umgebung bunter zu gestalten. Borsos schrieb einen Aktionstag aus – «und alle kamen aus ihren Löchern». Schliesslich entstanden nicht nur die bunten Fähnchen, die nun unter anderem vor dem GZ-Standort hängen, sondern auch Kontakte, Ideen und eine Basis für weitere Aktivitäten.
Unterstützung von Eigeninitiative
Auch heute noch ist Borsos zwei Nachmittage die Woche vor Ort, um Neuzugezogenen Auskunft zu geben oder soziokulturelle Anliegen entgegenzunehmen. «Die Partizipation ist hoch – die Leute sind sehr motiviert, ihre Umgebung zu gestalten», sagt sie. Nahezu alle Aktivitäten wurden in Zusammenarbeit mit Bewohnenden entwickelt. Zum Beispiel der Jass-Treff: «Eines Tages kam eine ältere Frau herein und sagte: ʼJa, macht ihr denn nichts für die alten Leute im Quartier?ʼ », erinnert sich Borsos. Die Frau wünschte sich regelmässige Jass-Abende. Borsos half bei der Ausschreibung und stellte den Raum zur Verfügung. Heute treffe sich das daraus entstandene offene Jassgrüppchen – vier bis fünf ältere Personen, die zuvor keinen Anschluss im Quartier hatten – auch für andere Aktivitäten.
Vernetzen und Brücken schaffen
Die Bevölkerung in der Manegg verteilt sich bereits heute auf mehrere Genossenschaften, eine Siedlung der städtischen Stiftung für kinderreiche Familien sowie Miet- und Ei-gentumswohnungen – und weitere Siedlungen werden folgen. Der Standort Manegg erfüllt in dieser Konstellation auch eine verbindende Funktion. Besonders innerhalb der Genossenschaften bestehe viel Motivation, zusätzlich zu internen soziokulturellen Angeboten auch Aktivitäten für die ganze Manegg zu organisieren, erzählt Borsos. Hierfür werde oft das als «neutral» wahrgenommene GZ einbezogen: Denn finde beispielsweise ein Angebot wie der von einer Genossenschaft organisierte offene Feierabendtreff im Standort Manegg statt, so erreiche man viel eher das ganze Quartier.
Dynamische Entwicklung
Der GZ-Standort Manegg ist mittlerweile zu einem Teil der Quartieridentität geworden, ist Borsos überzeugt. Aussergewöhnlich viele Bewohnende würden sich freiwillig engagieren, sei es beim Giessen der Pflanzkisten, beim Leseförderangebot oder bei den regelmässigen Quartierführungen für Neuzugezogene. Sie höre auch immer wieder, dass Leute das GZ als wichtig für die Manegg erachten. Damit das so bleibt, muss das Angebot jedoch laufend an sich verändernde Bedürfnisse angepasst werden. Dies ist nur möglich, wenn der GZ-Standort weiterhin am Puls der Manegg bleibt und neuen Bedarf rasch erkennt – als soziokulturelle Drehscheibe und beliebte Anlaufstelle für Neuzuziehende hat er dafür bereits heute die besten Voraussetzungen.
Das bevölkerungsreichste Stadtquartier Altstetten befindet sich in einem strukturellen und städtebaulichen Wandel: Neubauten und Sanierungen sollen bis 2035 für eine weitere Bevölkerungszunahme von knapp 20% sorgen. Als Ergänzung zum am Quartierrand gelegenen GZ Loogarten wurde deshalb 2016 der «Standort Badenerstrasse» eröffnet. Dieser soll mit einem speziell auf das Gebiet zwischen Badener- und Hohlstrasse zugeschnittenen soziokulturellen Angebot unter anderem Integration, Vernetzung und Partizipation fördern.
Wichtige Aussenwirkung
In einem Ladenlokal mit grossem Schaufenster untergebracht, fällt die GZ-Zweigstelle an der Badenerstrasse trotz all der Läden und Betriebe rundherum ins Auge: Immer wieder bleiben Passanten stehen, schauen neugierig durch die Scheiben und studieren die Flugblätter vor dem Eingang. Durch den Standortvorteil sei die Hemmschwelle, einfach mal hineinzukommen, tiefer als beim abgelegenen und etwas verwinkelten Hauptgebäude, erzählt die Standortverantwortliche Simone Galey. Auch bei der Einrichtung habe man auf die Aussenwirkung geachtet. «Mit einem GZ werden oft eher Kinderangebote assoziiert. Wir wollen aber als Raum wahrgenommen werden, in dem auch Angebote für Erwachsene stattfinden.» Und in der Tat: Ein Blick durch die Scheiben offenbart zunächst die Nähmaschine im Schaufenster, dann den direkt dahinterliegenden langen Holztisch – und erst danach die Kinderspielecke, die ganz hinten im Raum untergebracht ist.
Viel Bedarf für Angebote
Ursprünglich hätte der Standort Badenerstrasse vor allem auch eine Brücke zu den Angeboten des etwas abseits gelegenen GZ Loogarten schlagen sollen. Der Bedarf für ein eigenes Programm vor Ort erwies sich jedoch bald als stärker als erwartet. Heute werden einerseits Angebote wie zum Beispiel das Sprachcafé Deutsch, die Computeria oder das Schreibcoaching durchgeführt – teils gemeinsam mit lokalen PartnerInstitutionen und oft unter Mithilfe von Freiwilligen. Hinzu kommen Angebote wie der Stricktreff, die komplett von Freiwilligen aufgegleist und organisiert werden. Jeden Nachmittag unter der Woche stehen die Türen zudem offen für Anliegen der Quartierbevölkerung. Galey und ihre Kolleginnen und Kollegen helfen bei Fragen aller Art weiter: Wenn jemand einen Deutschkurs sucht, zum Beispiel. Oder wenn eine Person rasche Unterstützung bei kleineren Herausforderungen wie dem Ausfüllen eines Formulars braucht. Wie bei allen GZ-Räumlichkeiten kann der Raum schliesslich auch für private Zwecke genutzt werden – hierfür fällt eine kleine Mietgebühr an.
Ein Ort der Begegnung
Mit seinen niederschwelligen Angeboten, die oft ein heterogenes Publikum ansprechen, will der Standort Badenerstrasse nicht zuletzt auch Raum für Begegnung und nachbarschaftliche Kontakte schaffen. Zum Beispiel im Elterncafé, das abwechselnd mit dem lokalen Verein Bildungsmotor durchgeführt wird: Die dort behandelten Themen wie Erste Hilfe für Kinder oder das Schweizer Bildungssystem interessierten Eltern aus allen Bevölkerungsgruppen sagt Galey. Und so komme es nicht selten vor, dass sich am grossen Holztisch auch Familien kennenlernen, die aus vermeintlich komplett unterschiedlichen Lebenswelten kommen. «Denn besonders wenn es um die Kinder geht, sind die Themen und Sorgen, die einen beschäftigen, universell.»
Der Leutschenpark, das Hunziker Areal oder die Metropolitans-Hochhäuser – Leutschenbach, das frühere Gewerbegebiet im Norden von Zürich, wandelt sich langsam zum Wohnquartier. Während die grössten Überbauungen erst noch bevorstehen, ist das GZ Seebach bereits heute mit mobilen Angeboten vor Ort und begleitet die Entwicklung des Quartierlebens.
Zielgruppe Jugendliche
Wie in der Manegg und in Altstetten legte das GZ auch im Leutschenbach von Anfang an viel Wert darauf, bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln. Dazu habe man insbesondere mit Interessensgruppen aus den bereits bestehenden Wohnsiedlungen den Austausch gesucht, sagt Sabine Aquilini, Leiterin des GZ Seebach. Im Kontakt mit einer Genossenschaft habe sich schliesslich tatsächlich ein Brennpunkt herauskristallisiert, den das GZ bisher nicht auf dem Radar hatte: Die fehlenden Freizeitangebote für Jugendliche. Daraus entstand eine Kooperation – die Genossenschaft stellt einen ihrer Räume zur Verfügung und Jugendarbeitende des GZ Seebach unterstützen die Jugendlichen vor Ort bei ihren Anliegen und Ideen.
Unterwegs mit der «temporären Piazza»
Weitere Angebote werden vor allem mobil durchgeführt. Zum Beispiel mit dem SpielWerk Mobil, das gemeinsam mit einer lokalen soziokulturellen Kooperationspartnerin, der katholischen Kirche Maria Lourdes, betrieben wird. Das mit allerlei Materialien ausgerüstete Elektromobil «tourt» in den wärmeren Monaten durch das ganze Quartier Seebach, informiert über soziale und soziokulturelle Angebote und schafft mit Spiel-, Werk- und Kaffeetisch eine Art «temporäre Piazza»: Während die Spielangebote vor allem Kinder ansprechen, kommen am Kaffeetisch auch Eltern, Grosseltern und Quartierbewohnende ohne Kinder ins Gespräch – untereinander und mit den GZ-Mitarbeitenden. Trotz des mobilen Charakters des Angebots sei der Wiedererkennungseffekt bereits gross. «Bauen wir das SpielWerk Mobil auf, kommen die Kinder aus allen Ecken!», erzählt Aquilini.
Vielbeschäftigte Quartierbevölkerung
Anders als in der Manegg oder in Altstetten engagieren sich im Leutschenbach bisher nur wenige Freiwillige im Rahmen von GZ-Aktivitäten. Das mag einerseits daran liegen, dass zurzeit kein fester Raum vorhanden ist, der mit Aktivitäten bespielt werden könnte. Aquilini sagt aber auch: «Wir haben einen hohen Anteil an Vollberufstätigen, deren Kinder tagsüber in der Krippe sind, und die keine Zeit für soziokulturelles Engagement haben.» Innerhalb der Genossenschaften gebe es zwar engagierte Leute – diese versuche man dazu anzuregen, ihren Radius auf das ganze Gebiet auszuweiten. Und auch bei den mobilen Angeboten lenke man das Gespräch ab und zu auf mögliche Ideen. Man merke aber immer wieder: «Es ist eine Realität, die Leute sind sehr beschäftigt.» Kürzlich sei es jedoch gelungen, gemeinsam mit verschiedenen Bewohnenden ein kleines Projekt aufzugleisen. Im Zentrum der Aktion: Ein vielbefahrener Veloweg, der an gewissen Stellen eine Gefahr für spielende Kinder und Fussgänger darstellt. Nun erarbeiten GZ-Mitarbeitende gemeinsam mit Quartierbewohnenden Fahnen mit Botschaften, die die Situation rund um die am Weg gelegenen Spielplätze entschärfen sollen, berichtet Aquilini.
Weichen für die Zukunft stellen
Hinsichtlich des erwarteten grossen Bevölkerungswachstums im Leutschenbach sagt die Leiterin des GZ Seebach: «Noch ist kein Baustein gelegt.» Für die konkrete Planung neuer, grösserer Angebote sei es noch zu früh, solange man nicht wisse, welche und wie viele Personen schlussendlich hier wohnen würden. Geplant ist jedoch, dass das GZ Seebach im neu entstehenden Stadtteil ab Sommer 2024 einen eigenen «Standort Leutschenbach» betreiben soll. Dieser wird sich voraussichtlich im Erdgeschoss der geplanten städtischen Wohnsiedlung Leutschenbach befinden und soll als Informationsplattform und Treffpunkt für die Anwohnerinnen und Anwohner dienen. Bis es soweit ist, tragen die Mitarbeitenden des GZ Seebach weiterhin mit mobiler Präsenz zum Aufbau eines gemeinschaftlichen Quartierlebens bei – und schaffen mit ihrer Vernetzungsarbeit auch bereits eine Basis für die Betreibung des künftigen Standorts.
Die Bevölkerung der Stadt Zürich wächst weiter. Viele Quartiere werden sich aufgrund von verdichtetem Bauen sehr verändern. Die Nutzung des öffentlichen Raums wird noch mehr zunehmen. Fragen, wie man dem enormen Wachstum im Bereich Kinder und Jugendliche begegnet und ob künftig kleine Zweigstellen in den Quartieren oder grosse Zentren zielführend sind, müssen geklärt werden. Wie sich die Soziokultur ab 2025 ausrichtet, um diesen neuen Herausforderungen gewachsen zu sein, wird in einem Strategieprozess in den Jahren 2020 und 2021 erarbeitet. Dazu wurde eine interne Projektgruppe beauftragt und externe Fachstellen und Kontraktpartner werden beim Prozess mit einbezogen.